Weltliteratur – verstanden nicht einfach als Summation oder Selektion von Texten, sondern im Anschluss an Goethe als internationale literarische „Kommunikation“ (Birus 2003: 825) – ist abhängig von den Medien, in denen sich diese Kommunikation vollzieht. Änderungen ihrer medialen Verfasstheit bedingen veränderte Möglichkeiten, wie literarische Texte über Sprach- und Kulturraumgrenzen hinweg ein Publikum erreichen und auf andere Texte und Medienprodukte Bezug nehmen können. Der Gegenstand der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft ändert sich mithin im Medienwandel.
Bereits der Bernheimer-Report der ACLA (1993) verknüpfte die Kritik am Eurozentrismus der traditionellen europäischen und nordamerikanischen Komparatistik, d.h. die Forderung einer globalen Ausweitung des Blicks auch auf nicht westliche Kulturen, mit der Einsicht, dass der Gegenstand unseres Fachs hinsichtlich seiner Medialität und Materialität in einer einschneidenden Transformation begriffen ist: „the material form that has constituted our object of study for centuries, the book, is in the process of being transformed through computer technology and the communications revolution“ (Bernheimer 1995: 45). Die wenig später einsetzende World Literature-Debatte (Casanova, Damrosch, Lamping, Moretti, Tihanov u.a.) verlief gleichwohl lange Zeit überwiegend buchzentriert und nahm die Veränderungen, die sich durch die Digitalisierung in allen Lebensbereichen vollzogen und weiterhin vollziehen, allenfalls am Rande in den Blick. Eine explizite Reflexion auf die Medialität weltliterarischer Kommunikation blieb weitgehend ausgespart.
Demgegenüber sind die komplexen Zusammenhänge zwischen Medienentwicklung und Internationalisierung der Literatur innerhalb des Weltliteraturdiskurses in den letzten Jahren stärker in den Fokus gerückt. So spricht David Damrosch inzwischen von „World Literature in a Postliterary Age“, einem Zeitalter, das durch den Umstand gekennzeichnet sei, dass Literatur angesichts der Konkurrenz durch Fernsehen, Film oder Computerspiel ihren Fortbestand dadurch sichert, dass sie sich zum Teil als an diese neuen Medien adaptierbar erweist. Beispielhaft vergleicht er das Überleben der Ilias im Medium der Schrift nach dem Ende der antiken Rezitationspraxis mit der Transformation von Teilen aus Dantes Commedia in das Videospiel Dantes’s Inferno von Electronic Arts, Inc. (Damrosch 2013: 160ff.). Die neue Aufmerksamkeit für die Medialität weltliterarischer Kommunikationsprozesse manifestiert sich auch in historischen Untersuchungen: Ein von Anita Traninger und Federica La Manna herausgegebener Sammelband (2023) etwa schließt an Goethes Weltliteraturbegriff mit seinen medialen Implikationen an und untersucht erstmals genauer die Rolle der Rezension „als Medium“ beim Aufbau transnationaler Literaturnetzwerke für die Zeit um 1800. Karin Littau spricht von „two ages of world literature“ und vergleicht unsere durch altermediale Adaptionen, zunehmend automatisierte Übersetzungen und eine umfassende Digitalisierung geprägte Gegenwart als ein „,second age‘ of world literature“ (2019: 167) mit dem von Goethe ausgerufenen (ersten) Zeitalter der Weltliteratur, das wesentlich durch den Buchdruck bestimmt gewesen sei. Das implizierte Medienverständnis ist in diesen Forschungsbeispielen also durchaus unterschiedlich: Der internationale literaturkritische Diskurs über Bücher ebenso wie deren interlinguale oder intermediale Übersetzung erscheinen als ,Medien‘ der Weltliteratur, die es erlauben, dass literarische Kommunikationen sprach- und kulturraumübergreifend unmittelbar oder mittelbar (vermittelt über andere Kommunikationen) aneinander anschließen können.
Trotz dieser neueren Ansätze laufen die Diskurse über Weltliteratur einerseits (D’Haen et al. 2013; Damrosch 2014) und über Literatur in ihren medialen Zusammenhängen andererseits (z.B. Brillenburg Wirth et al. 2012, 2018; Pressman/Hayles 2013) heute noch immer weitgehend unverbunden nebeneinander her. Die Tagung möchte die beiden Diskurse stärker miteinander in Kontakt bringen, indem sie die Frage nach Weltliteratur unter der Perspektive ihrer Medialität und ihrer Position innerhalb komplexer medialer Relationsgefüge ins Zentrum stellt und diese unter sowohl systematischem als auch historischem Blickwinkel diskutiert. Was ist als ,Medium‘ von Weltliteratur zu fassen, wenn man diese als eine durch Texte vollzogene internationale Kommunikation versteht? Die Buchstaben, das Buch oder auch der Buchhandel, die Buchbesprechung, das „Booktok“-Video und der Literaturpodcast? Wie verändern sich im medialen Wandel die Modalitäten weltliterarischer Zirkulation und Rezeption? Wie die der Produktion? Welche Rolle spielen historische Zäsuren, z.B. der Übergang von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit, die Entwicklung des Buchdrucks oder der Wechsel von analoger zu digitaler Kommunikation? Lassen sich Texte präliterarischer oraler Kulturen oder postliterarische Medienadaptionen unserer Gegenwart einem etymologisch über seine Schriftlichkeit definierten Literarischen noch zurechnen? Oder werden z.B. ursprünglich literarische Motive, Stoffe, Geschichten durch die Übersetzung in den Comic oder das Computerspiel der Literatur entzogen? Welche neuen Formate und Praktiken der Weltliteratur entstehen unter den Bedingungen von Digitalisierung und Medienkonvergenz („convergence culture“, Jenkins) und wie wirken diese Faktoren andererseits auf traditionelle Trägermedien wie das Buch zurück (z.B. in einer erneuten Aufmerksamkeit für die Materialität des gedruckten Buchs, „new bookishness“)?
Wir schlagen vor, diese vielfältigen Fragen nach dem Zusammenhang von Medienentwicklung und Internationalisierung der Literatur unter drei verschiedenen, aber aufeinander bezogenen Aspekten zu ordnen und anzugehen:
- Medialität und Materialität international zirkulierender Literatur im Medienwandel, unter Berücksichtigung z.B. von Produktion, Distribution, Rezeption, Adaption, Popularisierung und Kanonisierung
- Der vor- und außerwissenschaftliche Diskurs über Weltliteratur im Medienwandel, z.B. Literaturkritik in unterschiedlichen Medien, internationale Literaturfestivals, Buchpreise, Übersetzungspolitiken
- Möglichkeiten der wissenschaftlichen Erforschung von Weltliteratur sowie der komparatistischen Lehre im Medienwandel (im Blick z.B. auf Bibliotheken, Online-Archive, distant reading, Digitale Komparatistik)
Erbeten werden Abstracts (max. eine Seite, 2500 Zeichen) mit Themenvorschlägen zu Kurzvorträgen (20 Minuten) oder zu kurzen Panels (90 Minuten) mit mehreren thematisch koordinierten Kurzvorträgen unter Leitung einer oder mehrerer Personen. Auch Vorschläge zu Lesegruppen oder Workshops (von jeweils 90 Minuten) unter Leitung einer oder mehrerer Personen sind willkommen. Diese Ausschreibung richtet sich an Wissenschaftler:innen aller Karrierestufen, insbesondere auch an Promovierende. Masterstudierende bzw. -absolvent:innen sind eingeladen, eigene Projekte mit Bezug zum Thema der Tagung im Rahmen einer Posterpräsentation vorzustellen. Auch hierfür bitten wir um Einsendung eines kurzen Abstracts mit Angaben zur Person (Universität, Studiengang).
Vorschläge bitte bis zum 15. Januar 2026 an: eckel@uni-mainz.de und mwiesma@uni-mainz.de
Auswahlbibliographie
Backe, Hans-Joachim, „The Literary Canon in the Age of New Media“, in: Poetics Today 36 (2015), S. 1-31
Birus, Hendrik, Art. „Weltliteratur“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. III, Berlin, New York 2003, S. 825-827
Brillenburg Wurth, Kiene; Lazar Fleishman; Haun Saussy (Hg.), Between Page and Screen: Remaking Literature Through Cinema and Cyberspace, Fordham University Press 2012
Brillenburg Wurth, Kiene; Kári Driscoll; Jessica Pressman (Hg.), Book Presence in a Digital Age, New York, London u.a.: Bloomsbury Academic 2018
Brillenburg Wurth, Kiene (Hg.), The Material Turn in Comparative Literature, Themenheft von: Comparative Literature 70.3 (2018)
Bernheimer, Charles, „The Bernheimer Report, 1993“, in: ders. (Hg.), Comparative Literature in the Age of Multiculturalism, Baltimore: The Johns Hopkins University Press 1995, S. 1-17
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Damrosch, David, What is World Literature? Princeton NJ: Princeton University Press 2003
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Damrosch, David, „The End of the Book? Literary Studies in a Post-Literary Age, 1960/2010/2060“, in: Ricardo Gil Soeiro and Sofia Tavares (Hg.), Rethinking the Humanities: Paths and Challenges, Cambridge: Cambridge Scholars 2012, S. 67-86
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Walkowitz, Rebecca, „Future Reading“ (published online 30 January 2015), in: Ursula K. Heise (Hg.), Futures of Comparative Literature. ACLA State of the Discipline Report, London, New York: Routledge 2017, S. 108-111
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