Nora Karches

Freiberufliche Moderatorin und Redakteurin beim Deutschlandfunk
Bachelor in Germanistik und Komparatistik, Master in Komparatistik in Mainz

 

Warum ist Literatur (heute noch) relevant, Frau Karches?

Na, das ist die Kracherfrage gleich zu Beginn (lacht). Ich würde sagen, dass Literatur uns hilft, Dinge nochmal anders zu verstehen, anders zu beleuchten. Ich kann für mich persönlich sagen, dass ich – durch das, was ich im Studium, aber auch später gelesen habe – viel mitgenommen habe und dadurch zu einer anderen Person geworden bin. Ich wäre anders, hätte ich all diese Sachen nicht gelesen. Das hat mich sehr viel weiter gebracht.

 

Wie hilft Ihnen Ihr Komparatistik-Studium heute noch?

Mein Studium hilft mir heute noch, weil meine Herangehensweise an Texte – so glaube ich – aus dieser Zeit stammt. Wenn ich einen Text lese, interessiert mich nicht nur die Inhaltsebene, sondern auch die Frage danach, wie dieser Text gemacht ist. Es geht nicht nur darum, was erzählt wird, sondern auch, wie erzählt wird. Im Komparatistik-Studium habe ich viel über Textstrukturen und Werkzeuge gelernt – und wie ich mir einen Text überhaupt anschaue.

 

Mein Komparatistik-Studium hat mein Interesse geweckt für…

… für das Nerdige. Ein bisschen zumindest (lacht). Für das Nischige. Weil ich davor, so glaube ich, doch einen eher engen Literaturbegriff hatte. Jetzt allerdings interessiert mich beispielsweise viel stärker als vorher, welche Texte von Frauen geschrieben worden sind, gerade auch in früheren Epochen. All das, was vielleicht in den Hintergrund geraten ist, und was jetzt wieder entdeckt wird. Das ist etwas, was mich heute sehr interessiert.

 

Komparatistik ist ein wichtiges Fach, weil…

… weil die Idee des Einzelphilologischen, die man gerade zu Studienbeginn noch aus der Schule im Kopf hat, eigentlich so früh wie möglich verworfen werden sollte. Komparatistik ist der Herangehensweise, wie Texte entstehen, angemessen. Weil keine Person ausschließlich, sagen wir mal, deutsche Literatur gelesen hat. Und es ist auch nicht so, dass durch einen Text, der auf Deutsch erscheint, nur ebenso deutsche Texte „hindurch“ gegangen sind. Dem ist einfach nicht so und das ist nie so gewesen. Ich glaube, diesem Prozess wird Rechnung getragen, wenn wir uns auf eine komparatistische Art und Weise mit einem Text befassen.

 

Wenn Sie jetzt mit dem Studium beginnen würden, was würden Sie anders machen?

Zwei Dinge. Zum einen hätte ich den „Brotjob“, den ich in der Zeit hatte, eher runtergefahren. Ich habe Seminare gehabt, von denen ich heute bereue, dass ich nicht alles gelesen habe. Zum anderen hätte ich wohl versucht, mich bei der Gestaltung der Seminarprogramme – also konkret: was wird gelesen, von wem wird gelesen – stärker einzubringen. Weil ich durchaus finde, dass es einen Unterschied macht, ob man ein Seminar besucht, in dem man nur Texte von Männern liest. Hat man ein Shakespeare-Seminar, ist das irgendwie naheliegend, nicht aber, wenn ein thematisches Seminar einen Fokus auf viele verschiedene Texte richten kann. Da würde ich heute im Rückblick öfter Widerspruch einlegen. Im Idealfall sollte dies immerhin ein Aushandlungsprozess sein.

 

Was würden Sie vom Studium nicht missen wollen?

Ich habe ein Interesse entwickelt für Texte, die mich vor zehn Jahren noch nicht angesprochen hätten. Da kann ich ein konkretes Beispiel geben: In diesem Jahr habe ich Brigitte Reimann für mich entdeckt. Reimann ist eine Autorin, die in den Siebzigerjahren in der DDR verstorben ist, im Alter von nicht einmal 40 Jahren. Mit ihrem Werk hätte ich vor zehn Jahren nichts anfangen können. Dadurch aber, dass ich im Komparatistik-Studium einen größeren Horizont bekommen habe, hat sich das geändert. Ich habe gelernt, dass Literatur nicht nur „Roman!“ heißt, sondern dass es auch spannende autobiographische Texte gibt, dass es auch spannende Tagebücher gibt, gerade von Autorinnen. Das ist etwas, was ich nicht mehr missen wollen würde. Ich schaue heute anders auf Literatur.

 

Und welches Buch hätten Sie ohne das Studium nicht kennengelernt?

Es gibt viele, doch ich denke vor allem an Le nègre crucifié von Gérard Étienne. Étienne ist ein haitianischer Autor und sein Buch finde ich besonders spannend, weil es in den Rahmen der postkolonialen Literatur eingeordnet werden kann und muss. Interessiert hat mich an diesem Buch, dass da ein Lebensentwurf dargestellt wird, der vor allem durch eine sprachliche Reflexion präsentiert wird. Der Frage, wie erzählt wird, kommt hier eine ganz eminente Rolle zu. Dieser Kosmos wird ohne jegliche Exotisierung dargestellt; es handelt sich eben um den Lebensentwurf eines schwarzen Autors, den ich so in der europäischen Literatur nicht gefunden hätte.

 

Was würden Sie einer Person raten, die überlegt, Komparatistik zu studieren?

Ich würde ihr empfehlen, sich nicht davon abschrecken zu lassen, dass man viel lesen muss im Studium. Ich würde dieser Person auch raten, dass sie dieses Studium nicht beginnen sollte in dem Glauben, dass man bereits viel gelesen haben muss. Was allerdings vorhanden sein sollte, ist so eine Freude, eine Begeisterungsfähigkeit, für literarische Texte und eine Bereitschaft, die Ärmel hochzukrempeln und sich wirklich tief in einen Text hineinzubegeben.